16 Jahre investiert, aufgerieben, gekämpft. Höhen und Tiefen erlebt. Und dann brauchte es ein Mittagessen, um alles zum Einsturz zu bringen. Die normale Reaktion: „Gescheitert!“ – aufgeben. Meine Entscheidung: „Gescheitert!“ – annehmen und Neues beginnen.
Die Temperaturen waren sommerlich, die Sonne stand am blauen Himmel über Salzburg, im Hintergrund war die Silhouette der örtlichen Alpen sichtbar. Auf dem Innenhof des Hotels waren 50 Männer und Frauen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, den USA, Kanada, Australien und Indien zusammen. Wir alle arbeiteten zusammen in einer Organisation, die soziale Projekte unter Randgruppen in Südasien aufbaute.
In regelmäßigen Abständen trafen wir uns auf internationaler Führungsebene für aktuelle und anstehende Planungen. So auch 2018. Die Organisation wuchs, als verantwortlicher Leiter für Deutschland war ich damit beschäftigt, unsere Führungsebene umzubauen und zu erweitern. Was ich damals kurz vor dem Mittagessen noch nicht wusste: im internationalen Vorstand galt ich bereits als verzichtbar. Doch bis dahin sollte es noch 6 Monate dauern …
laut, dreckig und fremd …
… so empfanden wir die Hauptstadt des asiatischen Landes damals, als meine Frau und ich 2004 das erste Mal dorthin aufbrachen. Eingeladen, um die Organisation mit ihren Projekten in ihren Anfängen kennenzulernen. Eingeladen auch, um zu prüfen, ob wir den deutschen Ableger aufbauen und leiten würden.
Alles war uns fremd. Zwar sind wir vorher schon weit gereist, waren bereits mehrmals in Australien und hatten auch sonst viel internationalen Kontakt und interkulturelle Erfahrungen gesammelt. Aber das hier war anders, neu. Als ob wir nicht nur das Land, sondern den Globus gewechselt hätten. Fremde Gerüche. Volle Straßen, Menschen überall. Eine schier erdrückende Präsenz von Armut. Ununterbrochenes Hupen von Autos, LKW, Bussen, Autorikschas. Selbst nachts gab es keine Ruhe. Und dann dieser Dreck – draußen wie drinnen in unseren Hotels …
Ja, wir haben den deutschen Zweig der Organisation gegründet. Was uns sicher geholfen hat, war unsere junge Unerfahrenheit und insbesondere meine Abenteuerlust. In den folgenden Jahren wuchsen unsere Familie, die Organisation, das Team, die Herausforderungen. Ich selbst war an die 10 Male in Asien unterwegs, teils mit unseren beiden Mädchen in allen Altersphasen, immer mit kleinen Teams. Als Mann hat mich diese Zeit sehr beansprucht, als Familie hat sie uns stark herausgefordert. Aber es fühlte sich richtig an, wir waren gerne und auch gut dabei – dachte ich zumindest, bis zu jenem Mittag in Salzburg.
„Jetzt schmeißen die mich raus!“
Das war es, was ich meiner Frau sagte. Daran erinnere mich noch genau. Wir waren schon seit 3 Tagen auf der Konferenz, der internationale Vorstand hatte bis dahin jeden Kontakt mit mir vermieden. Das tat weh, es schmerzte, und es ließ mich fragend außenstehend zurück.
An diesem Mittag wollten dann beide Geschäftsführer mit mir essen – nur mit mir, ohne meine Frau. Der Tisch war vereinbart, die Zeit war klar. Man ließ mich warten. Das Essen war nur noch lauwarm, als die beiden Männer Platz nahmen, sich entschuldigten für die Verspätung, da sie noch in wichtigen Gesprächen aufgehalten wurden. Dann ging alles recht schnell – nach 10 Minuten schien alles geklärt mit dem gut gemeinten Ratschlag: Nach den 16 Jahren Anstrengung würde man mir eine Auszeit gönnen, ich solle mal ein Sabbatjahr einlegen …
6 Monate später folgte dann das offizielle Ende – abgestimmt in einem Gremium, von dem ich bis dahin nicht einmal wusste, dass es existierte. Beschlossen durch Menschen, von denen mich nur wenige kannten. Über die Gründe ließ man mich im Unklaren. Mehrmals wollte man mir und meiner Frau in den folgenden Monaten für unser tolles und vorbildliches Engagement offiziell danken – was wir abgelehnt haben, bis heute. Ein großer Teil unseres Lebenswerkes war plötzlich weg. Langjährige Beziehungen zerbrachen. Ich war gescheitert!
Mein Entschluss: (nicht) gescheitert?!
Es dauerte ein paar Wochen, bis ich wieder imstande war, klar zu denken. Emotionen von Wut, Trauer, Ärger, Enttäuschung und Schmerz waren ständige Begleiter. In unendlich vielen Gesprächen mit meiner Frau und engen Freunden fand ich ein Ventil, mit diesen Gefühlen, mit meinen Fragen und meinen Zweifeln umzugehen. Und durch meinen Glauben in Gesprächen mit Gott, aber auch im stillen Schweigen mit ihm.
Und dann habe ich ganz bewusst einen Entschluss gefasst: Ich möchte bei dem Scheitern nicht stehen bleiben! Ja, ich konnte nicht weitermachen, wie ich es dachte. Und ja, ich war raus aus der Organisation – meiner Organisation, unserer Organisation. Beziehungen sind zerstört. Und Vertrauen ist verloren gegangen.
Ich habe bestimmt nicht alles richtig gemacht. Hätte an der einen oder anderen Stelle sicher anders, besser, handeln können. Habe vieles gut gemacht, einiges auch nicht – aber das darf nicht Teil meiner Identität werden. „Ich bin gescheitert“ kann in meine Identität eingreifen – und das wollte ich nicht zulassen, unter keinen Umständen. Auch dabei hat mir sicher mein Glaube geholfen – ich konnte ganz bewusst eine andere Perspektive einnehmen. Eine Sicht auf die Dinge, die diese Situation in ein Sprungbrett zur persönlichen Entwicklung verwandelt hat.
mein sprungbrett: die lektion von der achtsamkeit
Ich bin ein stiller Typ. Und ein nachdenklicher. Beschäftigt mich etwas, dann ziehe ich mich gerne zurück – zum Lesen, zum Denken. Reden brauche ich nicht viel. (Manchmal zum Leidwesen meiner Frau, die gerne mehr von mir hören würde. Von dem, was mich beschäftigt, was ich denke und fühle. Sicher etwas, worin ich als Ehemann besser werden muss, aber das ist ein anderes Thema.)
Meine Krise hat mich offen gemacht für neue Themen. Es waren viele Einzellektionen, alle in sich wertvoll, kaum eine ist bis heute vollständig abgeschlossen. In der Summe wurden alle diese Impulse, alle Gedanken, alle Ideen zu einer Lektion, die für mich zu einem Sprungbrett in eine stärkere Persönlichkeit wurden: die Lektion von der Achtsamkeit.
Dass scheinbar nicht nur ich damit bisher ein Problem hatte, zeigen die aktuellen Angebote zu diesem Thema: Schulungen zu mehr Achtsamkeit im Job und Privatleben, Achtsamkeits-Yoga, Achtsamkeitscoaching, Literatur für mehr Achtsamkeit. Achtsamkeit, ein Wort, das immer häufiger vorkommt, ein Phänomen, mit dem scheinbar noch mehr Menschen ein Problem haben. Meine Beobachtung: insbesondere Männer tun sich schwer damit.
Bis zu meiner Krise war Achtsamkeit für mich kein Thema. Das Einzige, worauf ich geachtet habe, waren meine Aufgaben – im Job, im Ehrenamt, in der Familie. Schließlich war ich ein verlässlicher und vorbildlicher Kollege, eine erfolgreiche Führungskraft und ein moderner Ehemann und Vater. Es galt, sich auf andere(s) zu fokussieren, für andere(s) da zu sein, Verantwortung zu übernehmen – nur nicht für mich selber.
Und jetzt war ich damit in einem großen Lebensbereich am Ende. Ich hätte darüber hinweggehen, mir schnell eine neue Aufgabe suchen können. Wollte ich aber nicht. Ich entschied mich, stehen zu bleiben, durchzuatmen, ruhig zu werden, wahrzunehmen, zu fühlen, genau hinzugucken – der Beginn von Achtsamkeit.
Achtsamkeit – Notwendigkeit im modernen Leben, nicht Verschwendung
Für mich begann es damit, meine Gefühle und Gedanken wahrzunehmen und zu formulieren. Meine Wut, meine Enttäuschung, meinen Frust, meinen Ärger, meine Zweifel, meine Fragen. Das konnte ich nicht, das musste ich lernen, ganz bewusst. Es galt jetzt, mir dafür ganz bewusst Zeit zu nehmen und diese nicht als Verschwendung, sondern als Notwendigkeit zu verstehen.
Ich begann, mein Leben zu vereinfachen, mich aus einigen Aufgaben zurückzuziehen und Zeit für mich ganz persönlich zu gewinnen. Bisher hatte ich keine Hobbies, keine persönlichen Erholungszeiten. Ich begann zu reiten – ein Wunsch, den ich schon als Kind hatte und nun wiederentdeckte. Daraus entstanden ist der Zugang zu neuen Hobbies, die mich heute entspannen und sehr glücklich machen: aktives Engagement auf Traditionsschiffen.
Ich entdeckte den Wert von Ruhezeiten im Leben. Warf das Motto „Erst die Arbeit und dann … hast du keine Zeit mehr für dich“ über Bord und tauschte es gegen die Erkenntnis ein, dass ein gutes, gesundes, stabiles Leben nur dann dauerhaft funktionieren kann, wenn sich aktive und passive Zeiten in einem gleichmäßigen Takt abwechseln. „Die Arbeit ist nie fertig“ wurde zu einem Grundsatz in meinem Leben, der es mir ermöglicht, gelassener zu werden.
Ich lernte die Bedeutung von bewusst gestalteten Übergängen zwischen den verschiedenen Aktivitäten und Aufgaben kennen. Rannte und stolperte nicht mehr wie bisher von einer Aufgabe in die nächste. Gestaltete den Rollenwechsel im Tages- und Wochenablauf vom Kollegen zum Vater, zum Ehemann und zur Führungskraft im Ehrenamt bewusst und mit Pausen dazwischen.
„Du bist ein starker Mann und in deinem Element“
Es dauerte mehrere Jahre, bis ich wieder Lust und Kapazitäten hatte, neben meinen alltäglichen Verpflichtungen im Job und in meiner Familie neue Dinge anzugehen. Noch immer probiere ich mich weiter aus, gehe nur erste Schritte.
Aus Dänemark schickte ich meiner Frau einen Gruß und ein Foto. Ich leitete eine Männerwoche an der rauen Nordseeküste mitten im November. Acht Männer waren zusammen, um gemeinsam über Fragen unserer Identität als Männer zu diskutieren und Abstand zu unserem Alltag zu gewinnen. Wir wanderten durch die Wald-Heide-Landschaften. Spazierten am Strand. Legten uns in die Dünen und ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen. Entspannten bei Wein und Kaminfeuer in unserem Ferienhaus. „Du bist ein starker Mann und in deinem Element“ schrieb sie zurück. Ein mutmachender Gruß.
Hätte ich mein Scheitern damals nicht als Chance zur persönlichen Entwicklung angenommen – ich wäre möglicherweise gescheitert. An mir selbst. Am Leben. Zum Glück kam es anders…