„Männerauszeit am Meer – entschleunigen und eintauchen in den Rhythmus der Natur.“ Sofort weckte die Anzeige im Magazin Jans ganze Aufmerksamkeit. Von einem natürlichen Rhythmus konnte er in seinem Alltag nur träumen, und Entschleunigung könnte er genauso gut auch als Fremdwort in die Suchmaschine eingeben…
Die Männer stehen in einem Kreis am Sandstrand. Vor ihnen im Sand liegt ein aus Steinen gelegtes Bild – 4 Achsen, die auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zulaufen. Es gleicht in gewisser Weise einer Kompassrose, bei genauerem Hinsehen erkennt man außenherum eine in den Sand gezogene Linie. Ein Rad – das Rad der Jagd, wie die Gruppe später von Markus, dem Coach, erfahren wird.
Zehn Männer sind es, zusammen für eine Woche am Meer. Die berufliche Bandbreite ist groß: Ingenieur, Informatiker, Grafiker, Meister, Soldat, Kommissar, Geschäftsführer, Musiker und Arbeiter. Ihnen allen gemein ist der Alltag, der geprägt ist von hoher Arbeitsdichte, Termindruck und Stress. Bei den meisten kommen noch Familie und Ehrenamt obendrauf. Kurzum: Alle genießen diese gemeinsame Männerauszeit am Meer. Einige der Teilnehmer waren vor ein paar Jahren bereits eine Woche lang mit Markus unterwegs und wussten, wie entspannend die Zeit hier werden würde.
Das Rad der Jagd – natürlicher Rhythmus im Alltag
Gestern Abend schon waren sie hier am Strand unterwegs, in der Dunkelheit, mit Fackeln. Es tat gut, den Alltag hinter sich zu lassen und am Meer in den Rhythmus der Natur einzutauchen. Dieser Rhythmus, der so ganz anders ist als der, den sie sonst erleben – am Schreibtisch, in langen Sitzungen, in der Familie. Das regelmäßige Rauschen der Wellen, das Lodern der Flamme, der Wind um das Gesicht. Die Elemente trugen dazu bei, zur Ruhe zu kommen. Die Atmung passte sich dem Takt des Meeres an, das auf den Strand rollte. Alles entspannte sich, die Gedanken wurden freier.
Es war, als atmete die Seele auf unter dem neuen Gefühl von Freiheit und Zufriedenheit.
Wohlüberlegt platziert Markus die Steine im Sand. Außen um die einzelnen Achsen herum zieht er kreisförmige Linie und blickt dabei in die erwartungsvollen Gesichter der Männer. „Das Rad der Jagd …“, erklärt er mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. „Lebensweisheiten und Wissen aus der Zeit, in der unsere Vorfahren noch als Jäger und Sammler durch die Wälder zogen.“ Markus schweigt einen Augenblick, um den Männern Zeit zu geben, alles in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
„Seit ich es vor einigen Jahren bei Udo Schroeter gefunden habe, ist es mein beständiger Begleiter im Alltag. Kurz zusammengefasst gibt es meinem Leben, jedem Tag, sogar einzelnen Aufgaben und Rollen innerhalb eines Tages eine Grundstruktur, die mich als Mann mit meinen menschlichen Bedürfnissen berücksichtigt. Eine Struktur, die dem Wunsch nach Entschleunigung, Stressreduzierung und Erholung im normalen Alltag neben allen Anforderungen, die das Leben an mich stellt, gerecht wird – wenn ich mich denn darauf einlasse.“
Die Natur als Vorbild für einen gesunden Lebensrhythmus
Noch immer blicken die Männer stumm auf die Steine im Sand vor ihnen. Die Gesichter verraten, dass einige zweifeln, während andere Neugier auf die weiteren Erklärungen erkennen lassen. Und wieder andere scheinen zu überlegen, was sie von all dem halten sollen. Da stehen sie hier am Strand, das Meer rauscht hinter ihrem Rücken, vor ihnen liegt ein Gebilde aus Steinen, dessen Ursprung einige hundert Jahre zurückreicht und ihnen im 21. Jahrhundert helfen soll …
Nach einer Zeit des Schweigens und Auf-sich-wirken-Lassens nimmt Markus die Männer behutsam mit auf die Reise zum alten Jäger- und Sammlerwissen: „Alles Geschehen in der Natur ist ein ewiger Kreislauf: Die Sonne geht auf, wandert an ihren Zenit, geht unter – ein Tag. Der Mond nimmt zu, erscheint voll, nimmt wieder ab, ist nicht sichtbar – ein Monat. Auf den Frühling folgt der Sommer, gefolgt vom Herbst, dann der Winter – ein Jahr. Das Wasser kommt, das Wasser geht – eine Gezeit. Wasser tritt aus der Quelle aus, läuft durch Flüsse zum Meer, verdunstet und bildet die Wolken, bis es wieder abregnet – der Wasserkreislauf.
Kreisläufe in der Natur laufen in einem gleichmäßigen Rhythmus ab. Es ist der Rhythmus der Schöpfung, der göttliche Rhythmus, die Rhythmik der Seele, des Menschen. Dafür wurden wir geschaffen. Unser Körper reagiert auf diesen Rhythmus mit Entspannung, die Herzfrequenz passt sich an, die Atmung passt sich an, Stresshormone werden abgebaut, wir fühlen uns wohl.“
Modernes Leben findet außerhalb des Natürlichen statt
Während seiner Ausführung zeichnet Markus das in den Sand gelegte Rad immer wieder mit einem Stock im Uhrzeigersinn nach und vertieft so immer mehr den Kreis um die Achsen.
„Der frühe Mensch – Jäger und Sammler – kannte die natürlichen Kreisläufe und hat in und mit ihnen gelebt. Der Fortschritt hat uns spätestens mit der Industrialisierung und der Weiterentwicklung der Gesellschaft zur späteren Dienstleistungs– und heutigen Wissensgesellschaft aus unserem eigentlichen Lebensraum völlig entfernt und total entfremdet. Die Zeit in Wäldern haben wir eingetauscht gegen Zeit in Bürotürmen. Das Rauschen des Windes gegen Verkehrslärm. Vogelgezwitscher gegen Smartphonetöne.
Ewige natürliche Kreisläufe wurden durch allerlei menschliche Errungenschaften aus dem Takt gebracht. Vom Tageslicht und den Jahreszeiten sind wir schon lange unabhängig. Die Folge: Wir leben vollständig entgegen unserer natürlichen Bestimmung, entgegen unserer natürlichen Beschaffenheit. Mit allen Folgen.“
Natürliche Kreisläufe übersetzt: Vorbereiten, Jagen, Entschleunigen und Ausruhen
Mit dem Stock zeigt Markus jetzt auf die Steinachse, die in Richtung Osten zeigt. „Damit früher Sammeln und Jagen gelingen konnten, brauchte es eine Zeit der Vorbereitung. Jagdgeräte mussten vollständig und einsatzbereit sein, die Gruppe musste einen Plan absprechen und die Strategie festlegen.“ Markus lässt den Stock weiter zur Südachse wandern.
„Dann folgte die Jagd und das Sammeln, bis das Überleben des Stammes sichergestellt war. Und nach dem Sammeln und Jagen folgten die Nachbereitung und der Dank. Geräte mussten repariert oder ausgebessert werden. Fehler wurden diskutiert, um zukünftig vermieden zu werden. Alles musste für einen erneuten Einsatz wieder vorbereitet werden. Für die Erträge äußert man Dank.“ Der Stock ist jetzt bereits an der nach Westen zeigenden Achse angekommen und Markus lässt die Spitze im Sand bis in den Norden des Rades weiterziehen.
„Und dann kam die Phase der Ruhe und Erholung. Man erzählte sich im Stamm Geschichten, saß um das Feuer herum und genoss die Zeit miteinander, ehe man sich zum Schlafen in sein Zelt zurückzog. Vorbereitung, Jagd, Nachbereitung, Ruhe – Morgen, Tag, Abend, Nacht.“ Markus macht eine Pause und sieht in die Runde der Männer. Alle Blicke sind nachdenklich auf den Kreis vor ihnen gerichtet.
Unser Problem: Wir kennen die natürlichen Kreisläufe nicht mehr
„Und genau da liegt unser Problem, die Ursache, warum wir heute so gestresst sind: Wir haben nicht nur unseren natürlichen Lebensraum weitestgehend aus unserem Leben verbannt, sondern wir kennen auch die natürlichen Kreisläufe im Alltag nicht mehr. Die gezielte Vorbereitung, eine fokussierte Jagd, gefolgt von der entschleunigenden Nachbereitung und abgeschlossen mit entspannender Ruhe gibt es in unserem geschäftigen Alltag nicht mehr. Gejagt wird von frühmorgens bis spät in die Nacht, meistens ohne nennenswerte Pausen, die Wochenenden inklusive.“
Die Männer nicken zustimmend, während sich ihre Blicke allmählich weg vom Sand vor ihnen einander zuwenden. Es ist Uwe, der Informatiker, der die vom Meeresrauschen begleitete Stille durchbricht: „Ich weiß ja nicht, wie es bei euch so ist, aber was mich angeht – Volltreffer. Morgens um 05:30 Uhr klingelt der Wecker, beim ersten Kaffee im Morgenmantel checke ich das erste Mal am Tag die Mails und die Social-Media-Kanäle. Dazwischen eben schnell ins Bad, für ein Frühstück ist keine Zeit, der erste Termin ist um 08:00 Uhr, die Autofahrt ins Büro wird begleitet von Telefonaten … Und so geht es den ganzen Tag weiter, bis ich abends völlig gestresst und ermüdet zu Hause ankomme – und mit etwas Glück meinen Kindern gerade noch gute Nacht sagen kann.“
„Und wenn das dann geschafft ist, möchte die Frau ja auch noch reden, über den Tag und die Kinder und Termine …“, ergänzt Jan. „Das ist auch ein Kreislauf, im wahrsten Sinne des Wortes. Gefühlt laufe ich im immer gleichen Kreis, die Geschwindigkeit nimmt mehr und mehr zu und der Ausstieg ist nicht in Sicht. Und meine Angst vor einem Burnout wächst.“ Jan entfährt ein Seufzer, in seinen Augen bilden sich Tränen, die nicht vom Wind am Strand stammen. „Gerade letzten Monat ist mein Kollege an einem Herzinfarkt gestorben. Mit nicht einmal 60 Jahren …“.
Echte Veränderung braucht Mut, Kraft und einen starken Willen
Die Männer blicken betroffen wieder auf das Rad der Jagd. Sie verstehen das Gesagte nur zu gut, erleben sie alle es doch auf die eine oder andere Weise in ihrem Alltag ähnlich.
Es ist Markus, der Jan eine Hand auf die Schulter legt und sich den Männern zuwendet: „Das Problem festzustellen, ist das Eine. Dadurch verändert sich aber noch nichts. Ich kenne viele Männer, die ihre Situation beschreiben und ihre Belastungen im Alltag aufzählen können. Aber sich dieser Situation zu stellen, die Herausforderung anzunehmen, echte Veränderungen herbeizuführen, das braucht Mut, Kraft und einen starken Willen. Denn in den meisten Fällen bedeutet es auch, eine neue Sicht auf das eigene Leben zu entwickeln.
Ansätze zu einem gesunden Leben im natürlichen Rhythmus bieten uns die einzelnen Steine des Rades auf den Achsen, denen wir uns in den nächsten Tagen detailliert zuwenden. Für heute ist genug gesagt, jetzt ist es wichtig, zu entschleunigen und das Gesagte wirken zu lassen.“
wieder ins spüren kommen
„Vielleicht ist es eine gute Übung und ein erster Schritt zur Veränderung, hier am Strand in das Fühlen des Naturrhythmus zu kommen. Setze oder lege dich in die Dünen, spaziere am Strand entlang. Nimm die Rhythmik der Natur wahr – die Wellen, den Wind. Beobachte sie oder höre ihr zu und spüre, wie sich diese natürliche Rhythmik auf dich auswirkt. Gibt es einen Rhythmus, den du besonders magst, der dich anspricht?
Oder wandere durch die Dünenlandschaft. Suche nach Anzeichen für das Vorhandensein der natürlichen Kreisläufe. Frage dich, welcher Kreislauf dich anspricht – vielleicht der des Tages und der Nacht? Oder der Monatskreislauf, symbolisiert durch den Viertelmond über dem Horizont? Oder der Jahreskreislauf, der durch die welkenden Blätter des Herbstes deutlich wird?“
Markus beobachtet, wie die Männer nach und nach in verschiedene Richtungen aufbrechen. Ein paar gehen am Strand entlang, Uwe, der Informatiker, macht sich in die Dünen auf. Tom setzt sich auf einen Baumstumpf an der Wasserkante und blickt auf die Wellen und den Horizont. Nur Jan bleibt zurück und setzt sich direkt an das Rad der Jagd. Auf seiner Wange rollen ein paar Tränen herunter, der Tod seines Kollegen und das Gesagte scheinen ihn gepackt zu haben. Markus spürt, dass Jan reden muss und setzt sich zu ihm …
Vor einigen Jahren bin ich in eine persönliche Lebenskrise geraten. Damals ist mir ein Buch von Udo Schroeter in die Hände gekommen. Mittlerweile habe ich alle seine Erzählungen mit großem Gewinn gelesen. Wer die Bücher von Udo Schroeter kennenlernen möchte, wird hier fündig. Das Rad der Jagd entstammt der Erzählung „Bin am Meer“.