Schöne Momente gibt es viele. Vater-Tochter-Glücksmomente sind aber mehr als das. Sie haben etwas einzigartiges, geheimnisvolles, irgendwie zauberhaftes. Und gerade ihre Seltenheit macht sie so besonders und wertvoll.
auftrag bei Position 54° 09,4‘ N 007° 57,1‘ E
Es war schon nach Mitternacht, gegen 1:00h in der Früh, als Dirk und seine Tochter den Auftrag bekamen die Segel loszuzeisen. Sie waren Teil der stehenden Wache, also der Crew, die jetzt das Schiff aktiv zu betreiben hatte. Um 0:00h haben sie die vorherige Wache abgelöst, die jetzt sicher schon in ihren Kojen lag. Ihre Aufgaben im Hafen waren eher ruhiger Natur gewesen, nur das Ablegemanöver hat noch einmal alle Kräfte und Konzentration gefordert. Kurz vor Mitternacht war der alte Großsegler aus Helgoland ausgelaufen und nun bereits auf dem offenen Meer.
Der leichte warme Sommerwind kam aus östlicher Richtung, was in diesem Gebiet nicht allzu häufig vorkommt. Wind aus Ost lässt hier die See eher ruhig und sanft erscheinen, ganz im Gegenteil zum Westwind. Der kann die Wellen schon ganz schön in die Höhe treiben, das hatte er selber im Frühling schon einmal erlebt. Tagsüber glitzerte das Wasser herrlich in der Sonne, die aber jetzt hinter dem Horizont ihre Bahn zog, um in nur wenigen Stunden im Osten wieder aus dem Meer hervorzukommen.
Der Kapitän wollte den Wind nutzen, um die nächsten paar Stunden ohne Motor und mit dem Strom die Fahrt gen Heimat fortzusetzen. Wenn alles gut läuft, würden sie in den Morgenstunden an der Flussmündung sein, wo sie dann in die Fahrrinne einbiegen und flussaufwärts bis nach Hause fahren wollen. Jetzt galt es also einige Segel vorzubereiten, um sie setzen zu können. Und vorbereiten heißt die Zeisinge, mit denen die Segel zusammengerollt und am Mast befestigt sind, zu lösen – also klettern und arbeiten im Rigg. Gut, dass die See ruhig, die Luft warm und der Wind nur mäßig waren.
Der Moment: Zusammen arbeiten 20 Meter über dem Meer
Gut gesichert mit Kletterausrüstung machte seine Tochter sich an der Backbordseite auf den Weg nach oben, er selbst stieg an der Steuerbordseite hinauf. Sie war schneller als er, gegen die Leichtigkeit einer 17jährigen hatte er als Mittvierziger keine Chance. Obwohl er regelmäßig Krafttraining und Ausdauersport treibt. Aber dies war ja auch kein Wettkampf und Sicherheit hatte hier an Bord immer oberste Priorität.
Etwa in 20 Meter Höhe standen die beiden nun im Rigg. Unter ihnen das vom offenen Meer umgebene Holzdeck des Segelschiffes. Über ihnen der weite Sternenhimmel und um sie herum die dunkelblaue Nacht. Nur der Horizont direkt über dem Meer war leicht hellblau und zeigte, dass noch etwas Sonnenlicht den Streifen erhellte. Klar, schließlich war es Hochsommer und die Nordhalbkugel daher der Sonne zugewandt.
Einigermaßen routiniert lösten sie die Zeisinge und befreiten mehr und mehr das große Segel vom Mast. Während seine Tochter auf der einen Seite die kleinen Tampen losmachte, wartete Dirk darauf, dass ihre Hand das freie Ende um das Segel gab, damit er die Leine wiederum am Mast befestigen konnte, um ein späteres Herumschlagen im Wind zu verhindern.
Ungefähr auf der Hälfte hielten beide jetzt inne. Schräg vor ihnen ging der knappe Dreiviertelmond in sanftem rötlichem Schein am Horizont auf. Immer höher kletterte er in den dunklen Himmel und veränderte dabei seine Farbe in ein warmes gelb und schließlich das mondtypische weiß. Ein fast magischer Moment für Vater und Tochter. So besonders, irgendwie bezaubernd – einer dieser seltenen Vater-Tochter-Glücksmomente Momente im Leben, die einem auf eine ganz eigene Weise sagen: Das Leben ist schön! Und an die man sich erinnern wird, auch Jahre später noch: Weißt du noch Papa, damals auf dem Schiff, als der Mond am Horizont aufging und wir beide im Rigg waren…
Vater-Tochter-Glücksmomente sind selten – und das macht sie besonders
In den folgenden Tagen beschäftigte Dirk die Situation immer wieder. Kann man solche Momente machen? Was macht diese so besonders? Aus eigener Erfahrung weiß er, dass solche Zeiten vor allem eines sind: selten. Nicht, dass es nicht viele schöne Erlebnisse in ihrem Familienleben gab. Das ist es nicht, aber eben diese so besonderen, einzigartigen Vater-Tochter-Glücksmomente, die sind selten. Und sie scheinen sich zu ergeben, einfach so, ungeplant, unbeeinflussbar. Ob es das auch zwischen Vätern und Söhnen gibt? Bestimmt, aber wissen tut er es nicht.
Wenn er zurückdenkt, dann fällt ihm eine weitere Situation ein, die auch seine zwei Töchter noch nicht vergessen haben. Damals waren beide noch klein und liebten ihre Dreiräder. Es war Winter und ein nahegelegener Teich ist über Wochen zugefroren. Und was lag da näher, als auf dem Eis mit den Dreirädern im dünnen Schnee Spuren zu ziehen und Schneeengel zu kreieren?
Oder dieser spezielle Morgen nach einer langen Flugreise nach Australien, wo sie im frühen warmen Morgen bei ihrer Gastfamilie auf der Veranda saßen… Er und seine Frau einen Kaffee in der Hand, die Mädchen am Schaukeln und spielen, ringsherum die Geräusche der Magpies und Kookaburras, die Luft leicht nach Eukalyptus duftend.
Vater-Tochter-Glücksmomente: auch eine Sache von Entscheidungen
Machen kann man diese Vater-Tochter-Glücksmomente nicht, da ist sich Dirk sicher. Aber begünstigen schon, indirekt jedenfalls. Bei längerem Nachdenken wird ihm klar, dass enge vertrauensvolle Beziehungen fast wie eine Art Voraussetzung für solche Erlebnisse sind.
Und ja, das hat ihn auch etwas gekostet: eine berufliche Karriere beispielsweise, die er als Ingenieur sicher hätte einschlagen können. Seine Diplomarbeit bekam damals sogar eine Auszeichnung, beste Voraussetzungen zum Durchstarten also. Oder der Verzicht auf eigene Hobbies zugunsten von Spielplatzzeiten und Geschichtenlesen mit den Kindern.
Stattdessen entschied er sich für einen sicheren Arbeitsplatz mit geregeltem Einkommen und verlässlichen Arbeitszeiten. Morgens aus dem Haus, am Nachmittag sicher zuhause, Wochenenden frei. Dadurch viel Zeit für und in der Familie. Immer präsent, immer erreichbar, immer dabei. Nicht nur körperlich, sondern auch mit voller Aufmerksamkeit. Laternenfeste im Kindergarten, Bastelnachmittage, Schulfeste…
Ja, es gab Zeiten, da hätte er gerne einen anspruchsvolleren Job gehabt. Wäre gerne auf Dienstreisen um die Welt geflogen. Aber klar war auch jedes Mal, wenn diese Gedanken kamen: ich will meine Töchter erleben, jeden Tag. Und sie sollen mich erleben, ebenfalls jeden Tag. Und meine Frau selbstverständlich auch.
Würde man ihn fragen, so würde er genau das auch jedem anderen Mann und Vater raten: Such deine Erfüllung nicht im Job, im Büro, in der weiten Welt, in der Karriere. Sicher, Windeln und Schnuller beflügeln eher nicht unser Ego, bestätigen uns nicht in unserer Männlichkeit. Das „Dankeschön“, die Anerkennung, kommen sehr viel später. Dann aber deutlich tiefgehender und nachhaltiger.
Wie da oben im Rigg in 20 Meter Höhe. Unter ihm das offene Meer, über ihm der weite Sternenhimmel, um ihn herum die dunkelblaue Nacht, gegenüber von ihm seine Tochter auf gleicher Höhe…