Sie gilt als hart, widerstandsfähig, massiv: die Eiche. Ausdruck von Qualität und Stärke, der kein Sturm etwas anhaben kann. Quasi das Pendant zu meiner Vorstellung, wie ich als Mann gern wäre – gerade in meinen Lebensstürmen.
Vor mir steht er, dieser Urwuchs von Baum, der schon vielen Lebensstürmen getrotzt hat. Ein massives Netz an knorrigen Wurzeln unter meinen Füßen, weit verzweigt in den Boden gegraben. Ich lasse meinen Blick den dicken Stamm emporwandern. Der Umfang misst mehrere Meter. Die Rinde bildet eine typisch raue Borke. Etwas weiter oben sind die Überreste von dicken Ästen zu erkennen, die im langen Leben des Baumes abgebrochen sind.
Stumme Zeugen schwerer Stürme, Gewitter und des natürlichen Alterungsprozesses. Trotz eines aufgeplatzten Stammes steht die Eiche noch immer hier, gekrönt von einem ausladenden grünen Blätterdach.
Solche Riesen sind bei uns nur noch selten zu finden. In einem geschützten naturnahen Waldstück ganz in meiner Nähe gibt es davon gleich mehrere Exemplare. Über 1000 Jahre sind diese Bäume alt, der sie umgebende Laubwald aus Buchen und jungen Eichen deutlich jünger. Auch deshalb, weil nahezu kein Baum so alt wird wie die Eiche. Ein Buchenleben dauert ungefähr 300 Jahre, ebenso ein Kiefern- und Fichtenleben. Ein Ahorn schafft es auf immerhin 500 Jahre, bei der Douglasie ist mit 700 Schluss. Lediglich die Linde und die selten gewordene Weißtanne stehen der Eiche in Punkto Lebensalter in nichts nach, wenn sie natürlich wachsen dürfen. (Was leider nicht mehr häufig der Fall ist, aber das ist ein anderes Thema.)
Alles muss klein beginnen…
…sang schon Gerhard Schöne in einem Kinderlied. „Alles muss klein beginnen, lass etwas Zeit verrinnen. Es muss nur Kraft gewinnen, und endlich ist es groß.“
Es beginnt mit einer kleinen Eichel. Im Frühling treibt aus ihr ein grüner Spross mit zwei kleinen, unscheinbaren Blättern. Am unteren Ende sprießen die ersten hauchzarten Wurzeln wie dünne Fäden. Kaum vorstellbar, dass aus so etwas einmal ein massiver Baum wird. Um die 50 Meter hoch, einige Tonnen schwer, Wurzeln bis zu 40 Metern Länge und eine Baumkrone mit einigen Kubikmetern Rauminhalt.
Es ist die Natur der Sache. Jeder Sache. Auch die der nicht-natürlichen, der menschengemachten. Alles beginnt klein. Alles muss klein beginnen. Es gibt keinen Start aus ausgewachsenes Ding, als fertige Einheit, als zu Ende gebrachtes Projekt.
Auch nicht bei mir. Egal, bei was. Ich will ein neues Hobby beginnen? Dann beginne ich klein, also ohne Erfahrung. Muss neu lernen. Andere sind da schon weiter. Ich verändere meinen Job? Auch da beginne ich wieder klein. Ich möchte eine schlechte Gewohnheit aufgeben? Dann fange ich mit kleinen Schritten an. Ich will sportlicher und ausdauernder werden? Dann starte ich nicht mit einem Marathonlauf, sondern mit einer 3-Kilometerrunde. Oder noch weniger. Andere sollen sich verändern? Eine Situation soll sich verändern? Dann suche und freue ich mich über kleine Anzeichen der Veränderung, erwarte nicht den großen radikalen Wandel.
…lass etwas Zeit verrinnen.
Eine Eiche wächst nur sehr langsam. In den ersten Jahren gut einen halben Meter pro Jahr, irgendwann nimmt das Wachstum ab und verlangsamt sich, bis nach ein paar hundert Jahren die volle Höhe erreicht ist. Im Umfang geht es noch langsamer, dafür aber kontinuierlich. Treten Schadstellen am Stamm auf, dann hat ein Baum die Fähigkeit, diese über einen Zeitraum von mehreren Jahren wieder zu verschließen. Genialität der Schöpfung.
Damit eine Eiche ihr Potenzial in Hinblick auf Holzqualität, Stabilität und Widerstandskraft voll entwickeln kann, braucht es vor allem Eines: Zeit. In der Natur gibt es für jede Art eine spezifische, eine angemessene, Wachstums- und Entwicklungsgeschwindigkeit. Alles beginnt klein und muss sich mit seiner ihm eigenen Geschwindigkeit entwickeln, wenn es seinem Wesen gerecht sein volles Potenzial ausschöpfen soll.
Der Mensch hat es scheinbar verstanden, die Geschwindigkeit der Natur auszutricksen. Die paar hundert Jahre, bis eine Eiche sinnvoll nutzbar ist, hat der moderne Mensch nicht. Das muss schneller gehen. Also: Fichtenplantagen (die fälschlicherweise gerne noch als Nadelwälder bezeichnet werden) anstelle von Laubwäldern anlegen. Eine Fichte wächst deutlich schneller, leider ist die Qualität aber auch deutlich geringer.
Das Problem sehen wir heute: Stürme legen komplette Gebiete platt, Wärme und Trockenheit schwächen die Bäume, der Borkenkäfer hat leichtes Spiel und vernichtet ganze Areale. (Eine kurze Erklärung am Rande: Die Fichte gehört natürlicherweise gar nicht hierher, sondern kommt aus den nördlicheren kühleren Gegenden Europas – da gibt es auch die Borkenkäferprobleme nicht.)
Ich will mich befreien von der Lüge des Zeitgewinns durch Abkürzungen. Weil sie trügerisch ist. Sieht erst einmal nach Intelligenz, Effizienz und schlauer Taktik, nach Kunstgriff, aus. Ist aber nicht natürlich und von daher nicht stabil, nicht nachhaltig, nicht tragfähig. Kurzfristig vielleicht schon, langfristig nicht. Wachstum und Entwicklung brauchen Zeit, wenn sie natürlich sein sollen. Aus einem einfachen Grund:
Es muss nur Kraft gewinnen…
Zeit bedeutet Kraft. Woher nimmt die Eiche die Fähigkeit, selbst ihren schwersten Lebensstürmen zu trotzen? Aus ihrem Wurzelwerk und ihrem Stamm. Und die brauchen, wie wir schon festgestellt haben, mehrere hundert Jahre, bis sie ihr volles Potenzial entfaltet haben und die Eiche zu dem machen, wofür sie schätzen.
Die Natur macht es uns vor: Zeit beim Wachstum bedeutet Kraft, Stabilität, Beständigkeit, nutzbares Ergebnis. In unserer modernen Zeit liegt genau hier das Problem: Zeit ist zum bestimmenden Faktor geworden. Allerdings nicht im natürlichen Sinn – mehr Zeit für gesundes Wachstum und gute Ergebnisse – sondern im wirtschaftlichen Sinn. Zeit gleich Geld, und zwar im negativen Gebrauch, also Zeit gleich Kosten. Und damit knapp.
Deswegen gilt es, immer mehr zeitlichen Druck aufzubauen, die Geschwindigkeit immer weiter künstlich zu erhöhen. Im beruflichen Alltag kennen wir das nur allzu gut: die zugestandenen Zeiten für unsere Tätigkeiten werden verkürzt, das Arbeitsvolumen gleichzeitig erhöht. Immer mehr in kürzerer Zeit. Wettbewerbsfähig bleiben lautet die Prämisse.
Aber auch im privaten Leben läuft es oftmals nicht anders, nur meistens unbemerkt. Termine nehmen zu, die Flut an Nachrichten strömt immer gewaltiger auf uns ein – Social Media sei Dank auch zu jeder Zeit an jedem nur erdenklichen Ort. Was das mit uns macht? Wir werden immer gestresster, haben immer weniger natürliche Ruhezeiten zum Kräfte sammeln. Kinder, Familie und Freunde bekommen nur noch unsere geteilte Aufmerksamkeit. Die Zeit für mich selber, Zeit zum persönlichen Ausruhen, Zeit zum Wachsen und damit Zeit zur Kraftgewinnung, werden immer weniger oder sind schon ganz hinten runtergefallen.
Das Ergebnis: in den vorbeiziehenden Lebensstürmen knicke ich um wie eine kranke Fichte. Burnout, Depression, Herzinfarkt, Stoffwechselkrankheiten. Es fehlt die Kraft, um den Stürmen entgegen zu treten und ihnen zu trotzen.
…und endlich ist es groß.
Damit unsere Eiche 1000 Jahre überleben und darüber hinaus neuen Generationen von jungen Bäumen notwendigen Schutz für ihr Wachstum in ihren Lebensstürmen geben kann, braucht es Zeit, Zeit und nochmal Zeit. Und Geduld. Waldplanung ist ein Projekt über Generationen hinweg. Einen Baum, den ich heute pflanze, egal ob Buche, Ahorn oder Eiche (ja, und selbst eine Fichte) rentiert sich erst mindestens in der nächsten Generation. Das mag mir passen oder auch nicht, aber so isses halt.
Mein Wachstums- und Reifeprozess braucht Zeit. Damals fühlte ich mich als 10jähriger schon groß, dann als 18jähriger. Heute, wo ich in den Mittvierzigern bin, habe ich das Gefühl, ich bin tatsächlich groß. Endlich. Groß, und dennoch nicht fertig. Und konnte schon ein paar Lebensstürmen standhalten. Aber dazu brauchte es Zeit. Und auch meine weitere Entwicklung wird Zeit brauchen. Beruflich und privat. Manche Dinge werden sogar mehr Zeit als noch vor 10 Jahren brauchen. Weil ich auch älter werde und sich meine geistigen und körperlichen Fähigkeiten – natürlicherweise – auch verändern.
1000 Jahre Eichenleben – Alter hat Wert
Wie ich im Wald so vor der Eiche stehe, wird mir klar, dass dieser Baum so einiges erlebt hat. Es gibt noch ein paar wenige von ihnen, aber nicht mehr viele. Einige sind zu viel früheren Jahren abgeholzt und genutzt worden. Andere konnten den Stürmen nicht standhalten. Aber diese Eiche hier lebt noch immer. Könnte sie reden, hätte sie wohl vieles zu erzählen.
Vielleicht von Liebespaaren, die sich um 1000 n.Ch. unter ihrem Blätterdach in der Abendsonne liebten. Von Bauern, die sich unter ihrem Schatten in der Mittagssonne ausruhten. Von Schweinen, die im Spätherbst unter ihr die Eicheln fraßen. Sie könnte erzählen von den dunklen Zeiten des Mittelalters, von Kriegsbomben und Granaten, die neben ihr einschlugen, aber sie verschonten.
Diese Eiche hat sicher einen immensen wert. Ideell, wenn man sich selbst in ihre Nähe stellt und anerkennt, dass das eigene Leben niemals mit der Lebensdauer dieses Baumes mithalten wird können. Das macht demütig und rückt die natürliche Perspektive wieder gerade. So wichtig, wie ich oft denke, bin ich gar nicht.
Aber auch materiell hat sie sicher einen großen Wert. Vermutlich könnte aus dem Holz dieses Baumes einiges tolles und nützliches produziert werden, woran sich andere wiederum freuen können (Ein tolles Eichenfass für einen perfekten Rotwein beispielsweise…).
Ich möchte das Alter schätzen lernen. Mein Eigenes, weil ich alles dafür tue, dass ich möglichst lange lebe. Damit andere davon etwas haben. Das bedeutet, ich gebe mir Zeit für mein Wachstum, immer wieder. Ich akzeptiere, dass natürliche Entwicklung Zeit braucht und sich nicht beschleunigen lässt. Und ich möchte alte Menschen mit ihren Erfahrungen und Geschichten schätzen lernen. Sie achten und lernen, wie sie ihren Lebensstürmen trotzen konnten.
Mit jedem alten Baum, der umfällt, geht auch ein Stück Waldgeschichte verloren. Jeder alte Mensch, der stirbt, nimmt auch seine Lebenserfahrungen unwiederbringlich mit – gut, wenn ich möglichst viele der Geschichten und Erfahrungen kennengelernt habe. Dann kann ich davon profitieren, weiterwachsen und den nachfolgenden Generationen helfen, in ihren Lebensstürmen zu bestehen.