Im besten Fall ist mein Leben im Fluss – in einer kontinuierlichen Vorwärtsbewegung, mit angemessener Geschwindigkeit. Manchmal droht es aber auch, zu einem stehenden Gewässer zu verkommen. Und dann gibt es Zeiten, da gleicht es einem reißenden Wildwasser mit nahezu nicht zu bändigender Kraft…
Es war ein warmer Frühlingstag. Die Sonne strahlte schon eine angenehme Wärme aus, die es mir erlaubte, ohne Jacke auf der kleinen Holzbrücke eine Pause einzulegen. Um mich herum das frische helle Grün der Wiesen mit ihren kleinen bunten Blüten. An einigen von ihnen summten die ersten Bienen. In den Bäumen des naheliegenden Waldes sangen Vögel ihre fröhlichen Lieder. Und unter mir plätscherte der kleine Bach, in dem sich das Regenwasser aus den umliegenden Hügeln sammelte, in ruhigem Tempo dahin. Und es war Leben im Fluss: Pflanzen, kleine Fische, Schnecken, Kleintiere.
Ein toller Moment. Das Gewässer, dieser kleine Fluss, hatte genau das richtige Tempo. Durch sein klares Wasser hindurch konnte ich bis auf den Grund sehen, auf dem sich die langen Blätter der Pflanzen in die Strömung legten. Kleine Fische schwammen durch die Pflanzenblätter und verschwanden in den aus Steinen gebildeten Höhlen. Alles wirkte beruhigend, friedlich, im Gleichgewicht.
Drei ‚Leben im Fluss‘ – Typen
Meine Gedanken begannen sich zu formen. Genau wie dieser Bach unter mir ist auch mein Leben im Fluss. Es läuft gerade richtig gut, in angemessenem Tempo, kontinuierlich, ohne große Schwierigkeiten. Wie ich hier auf den Grund sehen und viele Details erkennen kann, so nehme ich auch mein Leben im Moment wahr. Klar, nicht getrübt durch irgendwelche Vorkommnisse. Alles ist gesund und im Gleichgewicht.
Das ist nicht immer so. Manchmal erlebe ich Zeiten, da scheint mein Leben stillzustehen. Und dann gibt es auch mal Zeiten, das ist das Leben im Fluss, gleicht aber einem weiß schäumenden, lauten und hoch spritzendem Wildwasser mit dicken Steinen und Felsblöcken darin. Diese Art von Gewässer, die beim Rafting so beliebt sind. Um durch so einen Strom heil durchzukommen, braucht es viel Einsatz, Können und eine entsprechende Ausrüstung.
Wenn Flüsse zum Stillstand kommen, blockieren oft Hindernisse den Zu- oder Abfluss. Bäume, Äste, große Steine oder Felsblöcke, Erdaufhäufungen. Die müssen weggeräumt werden, um die Wasserbewegung wiederherzustellen. Mit eben solchen Hindernissen kann ich aber auch versuchen, einen wilden reißenden Fluss zu verlangsamen, ihm sein Tempo und seine Kraft zu nehmen.
es kommt auf das verhältnis an
Beides, stehendes Gewässer und Wildwasser, sind auf Dauer nicht gut. Ein stehendes Gewässer birgt die Gefahr, dass es biologisch aus dem Gleichgewicht gerät. Die Versorgung mit Sauerstoff ist schwierig, schädliche Stoffe und Verunreinigungen werden nicht abtransportiert. Das Wasser wird trübe, Pflanzen verrotten, Tiere verenden. Alles wird zu einem schlecht aussehenden und entsprechend riechenden Tümpel, der bei starker Sonneneinstrahlung und Wärme irgendwann austrocknet. Das Ende vom Leben im Fluss – in doppeltem Sinne.
Auch ein reißender, wild schäumender Fluss hat seine Tücken, wenn er nicht an irgendwelchen Stellen gebändigt wird: er reißt weg, was sich ihm in den Weg stellt. Sicher, solange ich das Gewässer zu meinem Vergnügen nutzen will, kann er vermutlich nicht lang genug sein. Aber insgesamt geht von solchen Gewässern eine Gefahr aus, wenn sie an Masse und Geschwindigkeit zunehmen.
Ja, mein Leben verträgt Zeiten des Stillstands. Egal ob es sich dabei um wahrgenommenen oder tatsächlichen Stillstand handelt. Genauso verträgt mein Leben auch Zeiten der Wildheit und Rasantheit, wo alles drunter und drüber zugehen scheint. Aber beides sollten nur temporäre Zustände sein. Gesund ist, wenn mein Leben eine natürliche und damit eine verträgliche Geschwindigkeit hat – so, wie der kleine Fluss, der unter mir dahinfloss, als ich auf der Brücke die Frühlingssonne genossen habe.
Flussbegradigungen – die Sache mit den Abkürzungen
Und noch etwas kommt mir in den Sinn: der natürliche Lauf von Flüssen über größere Entfernungen ist nie nur geradeaus, sondern in aller Regel mit Kurven versehen. Enge und weitläufige. Dadurch reguliert sich die Fließgeschwindigkeit automatisch auf natürlichem Wege. Menschengemachte Flussbegradigungen bringen häufig eine Menge Probleme mit sich.
Das trifft auch auf mein Leben zu: Abkürzungen können mal funktionieren, bergen aber auch ihre Gefahren. Insbesondere dann, wenn mehrere Faktoren ungünstig aufeinandertreffen.
Ist dein Leben im Fluss – gleichmäßig, in angemessenem Tempo, gesund? Steht es und modert vor sich hin? Ist es an der Zeit, Blockaden wegzuräumen, damit wieder Fließgeschwindigkeit entstehen kann? Oder gleicht es einem reißenden Wildwasser – mit dem Potenzial, dir und anderen dauerhaften Schaden zuzufügen? Braucht es jetzt vielleicht beruhigende, bremsende Elemente wie Steine und Baumstämme, um die Fließgeschwindigkeit zu senken?