Du fühlst dich müde, antriebslos, ausgelaugt, platt, überfordert? ‚Motiviert‘ scheint ein Fremdwort zu sein und ‚Lustlos‘ ist dein zweiter Vorname? Dann bist du mit leerem Tank unterwegs. Schuld daran sind meistens wir selber – weil wir es versäumt haben, unseren eigenen Kraftort rechtzeitig aufzusuchen.
…Hier, am Strand, den Blick auf das Meer gerichtet, wusste ich: ich war wieder angekommen an meinem Kraftort. Nicht nur wusste ich es, ich spürte es. An diesem besonderen, diesem befreienden, erleichternden Atmen tief in mir, dem Aufatmen meiner Seele, wie sie es immer tut, wenn ich am Meer bin…
Dieser Winter war wieder lang. Gefühlt jedenfalls. Viele grauen Tage, sogar Wochen ohne richtige Sonne. Schnee, der die ganze Landschaft verzaubert und das Licht der Sonne in die Luft zurückspiegelt, gab es nur an ganz wenigen Tagen. Ein typischer gemäßigter Winter also, wie er hier oben an der Küste die Regel ist. Und dennoch, irgendwie fühlte er sich dieses Mal besonders lang an. Wollte gar nicht vorübergehen. Die Dunkelheit der kurzen Tage wog scheinbar besonders schwer, die nasse Kälte kroch richtig tief, das Grau der tiefhängenden dicken Wolken schien einen fast zu erdrücken.
Natürlich, in der Sache und der physikalischen Erscheinung war alles so wie immer. Aber auf der gefühlten Ebene war es kräftezehrender als sonst. Warum? Eine richtige Antwort habe ich nicht. Für mich erkläre ich mein Empfinden damit, dass es mir spiegelt, was gerade in mir drinnen passiert, womit meine Seele beschäftigt ist. Und das ist insbesondere die Tatsache, dass meine älteste Tochter in diesem Jahr unser Haus und unsere Familie verlässt und in ihr eigenes Leben startet. Ein Loslöseprozess, an dem viele Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen hängen. Das will wahrgenommen und verarbeitet werden… Zum Glück hatte ich für den frühen Frühling, zum Ausklang des Winters, eine Woche Urlaub am Meer gebucht. Schon lange wollte ich einmal die dänische Insel Bornholm kennenlernen.
Ich brauchte nicht viel, war glücklich mit dem Meer und dem Strand. Entschleunigte. Fand überall interessante Motive. Bummelte stundenlang und suchte Treibgut. Alleine, mit meiner Frau, mit meiner Familie. Die Farben des Meeres, des Strandes, des Himmels, dazu die Geräusche und Gerüche: ein toller Ort. Ein Kraftort – mein Kraftort!.
Deinen eigenen Kraftort musst du kennen, um ihn aufzusuchen
Kennst du diesen einen ganz besonderen Atemzug, das befreiende Aufatmen deines Innenlebens? Anders als beim Seufzen, das ja oftmals von einer gewissen Schwere begleitet ist und uns eine Enge im Brustraum spüren lässt. Du fragst dich jetzt gerade, was genau ich meine? Dann bist du vermutlich in guter Gesellschaft.
Als Männer neigen wir dazu, solche Abläufe im Körper gar nicht bewusst wahrzunehmen. Oder sie zumindest nicht genau beschreiben und in Zusammenhang bringen zu können mit dem, was wir gerade erleben, wie es uns geht. Ich weiß nicht, ob das wissenschaftlich bewiesen ist und de facto der Wahrheit entspricht, aber mein Eindruck ist, dass Frauen hier besser Zugang zu sich haben. Ist letztlich aber auch egal.
Wichtig ist, dass wir (wieder) lernen, uns bewusst zu spüren. Dass wir merken, was in uns und mit uns passiert und wie sich das äußert. Je mehr Zugang wir zu uns selbst haben, desto besser können wir uns aktiv in unseren unterschiedlichen Lebenssituationen kontrollieren und steuern. Oder anders ausgedrückt: Wenn ich die Signale meines Körpers bewusst wahrnehme und richtig zu deuten weiß, gewinne ich mehr und mehr die Kontrolle über mein Leben (zurück). Ich werde handlungsfähig, kann kontrollieren, kann bewusst entscheiden.
Zurück zur Ausgangsfrage: Kennst du diesen einen ganz besonderen Atemzug, das befreiende Aufatmen deines Innenlebens? Dort, am Strand von Bornholm, habe ich dieses Aufatmen meiner Seele wieder bewusst wahrgenommen. Befreiend, erfrischend, kraftgebend nach dem Winter. Habe gespürt, wie sich mein ‚Tank‘ wieder füllt.
Deswegen ist es wichtig, dass ich genau weiß, wo mein eigener Kraftort ist, wo ich auftanken kann. Für mich persönlich ist es das Meer. Für jemand anderes mögen es die Berge sein. Oder eine bunte Blumenwiese. Ein Wald mit zwitschernden Vögeln. Egal welcher Ort es für dich ist – du musst deinen Kraftort kennen, um ihn bewusst aufsuchen zu können. Und wie lernst du diesen kennen? Der Weg dahin geht über das Fühlen:
Deinen eigenen Kraftort musst du fühlen, um ihn zu kennen
Mit Gefühlen haben wir Männer es ja nicht so – wird zumindest gern behauptet. Und sicher ist was dran an dieser Behauptung. Vielleicht ist dir auch nicht so ganz wohl bei diesem Thema.
Aber lass mich gleich etwas vorwegnehmen: Gefühle sind natürlich (auch für Männer!) und gehören zu meiner und zu deiner Persönlichkeit dazu. Das Problem sind nicht die Gefühle, sondern eher unser männlicher Umgang beziehungsweise fehlender oder mangelhafter Umgang mit ihnen. Und wenn wir von unserem eigenen Kraftort reden, dann müssen wir auch über Gefühle reden – weil beides unmittelbar zusammenhängt.
Exkurs: rational versus emotional im Männer-Alltag
Unser Handeln im Alltag basiert, stark vereinfacht gesehen, im Wesentlichen entweder auf rationalen (=kopfgesteuerten) oder auf emotionalen (=gefühlsgesteuerten) Entscheidungen. Leider sind wir gesellschaftlich so geprägt worden, dass wir Männer uns als rationale und Frauen als emotionale Wesen verstehen. Das führt fälschlicherweise auch dazu, dass unter Männern die Devise gilt: gute und vor allem vernünftige Entscheidungen sind immer rational. Infolgedessen haben wir auch gelernt, unserem Denken mehr Gewicht beizumessen als unserem Fühlen und Gefühle daher als ‚Gefühlsduselei‘ abzuwerten.
Was unterscheidet einen gewöhnlichen oder auch besonderen Ort von meinem eigenen Kraftort? Kurz gesagt dieses: Einen gewöhnlichen Ort erkläre ich auf rationaler Ebene für mich zu einem besonderen Ort. Meinen Kraftort erklärt mein Inneres auf der emotionalen Ebene zu eben diesem Ort.
In Über mich habe ich geschrieben, dass ich das Meer liebe, aber auch die Berge mag. Gerne plane ich Urlaube in der Bergwelt, um zu wandern und mich selbst immer mal wieder neu herauszufordern. Solche Zeiten genieße ich sehr und komme in aller Regel gut erholt wieder nach Hause. Alles, was ich dort erlebe und sehe, nehme ich aber eher auf der rationalen Ebene wahr. Die Passage am Berghang, der Weg zum Gipfel, der Ausblick über das Tal, die schönen Almen – ich genieße das und bewerte es als schön oder herausfordernd. Das passiert aber überwiegend im Kopf.
Wenn ich, wie oben beschrieben, am Meer bin, nehme ich die Eindrücke nicht primär mit dem Kopf, sondern in meinem inneren, mit meinen Gefühlen wahr. Das kann ich gar nicht bewusst steuern, es passiert einfach. Und am Meer passiert es auch, dass ich spüre, wie mein Innenleben, meine Seele, zur Ruhe kommt.
Dieses besondere Aufatmen. Dieses ‚Zur-Ruhe-Kommen‘, das Loslassen der Gedanken, die abfallende Last von den Schultern, die tiefe Entspannung. Das alles kann ich nicht bewusst machen, es passiert völlig unbewusst. Und ich spüre förmlich, wie ich tief in mir Kraft tanke.
Du musst dich selbst spüren, um deinen Kraftort zu fühlen
Das alles setzt natürlich Eines voraus: dass ich mich selbst spüre! Ich muss wahrnehmen, was in mir passiert. Muss in der Lage sein, meine Gefühle von meinem Denken zu unterscheiden. Muss gelernt haben, die Dinge zu formulieren, in Worten auszudrücken. Und das alles in Bezug zu meinem derzeitigen Leben setzen zu können. Das Problem: In der Männerwelt gilt sowas als schwach, weiblich, lächerlich. Hier zählen Fakten, rationale Denkketten und handfeste – echte – Ergebnisse…
Grundsätzlich bin ich tendenziell ein Kopfmensch. Neige dazu, eher zu viel als zu wenig nachzudenken. Verfange mich oft im Rationalen. Um mich auch meiner zweiten Seite, der Seite meiner Gefühlswelt, zuzuwenden, brauchte es bei mir eine in diesem Bereich starke Ehefrau und eine einschneidende Lebenskrise. „Was denkst du gerade?“ oder „Wie geht’s dir?“ waren Fragen meiner Frau, die mich manchmal fast in den Wahnsinn getrieben haben (okay, etwas übertrieben…). Wie soll ich erklären, was ich gerade denke? Und wozu? Und wie’s mir geht? Gut natürlich. Reichte meiner Frau aber des Öfteren nicht. Sie bohrte nach und wollte Antworten, also so richtige Antworten, die mit echtem Inhalt…
Als dann eine massive Veränderung in meinem Leben eintraf, habe ich gelernt, auch in mich hineinzuhören. Habe gelernt, mein Innenleben, meine Seele, bewusst wahrzunehmen. Und das, was ich wahrgenommen habe, zu formulieren. Meinen erlebten inneren Schmerz, Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Ärger, Ratlosigkeit – ich konnte sie immer besser benennen und sogar in mir lokalisieren. ‚Achtsamkeit‘ ist der Begriff dafür heutzutage.
Es war die Zeit, in der ich dann auch gefühlt habe, dass das Meer mein persönlicher Kraftort ist, an dem meine Seele aufatmet, an dem ich tiefe Kraft schöpfe. Seitdem ich das weiß kann ich diesen Ort auch bewusst aufsuchen. Kann solche Zeiten immer wieder in meinem Kalender einplanen. Muss nicht irgendwo nach Ruhe und Erholung suchen, sondern weiß von vornherein, wo ich sie finde.
Am eigenen Kraftort sein ohne dort zu sein – Kraft tanken im Alltag
Nun ist es nicht immer möglich, schnell an seinen Kraftort zu gelangen. Ich kann nicht mal eben aus meinem Alltag aussteigen und an den Strand ans rauschende Meer fahren. Ebenso wenig, wie du vielleicht an deinen Kraftort, die Berge kommst. Oder in den Wald. Was also tun?
Ich habe mir zuhause einen kleinen Alltags-Kraftort eingerichtet. Es ist eine kleine Ecke im Büro. Dort stehen ein Sessel und ein Minitisch vorm Fenster. Auf dem Tisch ein kleiner Leuchtturm mit einer LED-Lampe. Daneben meine Bibel, in der ich regelmäßig lese und deren Texte mir im Alltag helfen. Und auf der Fensterbank liegt seit neuestem ein Stück Treibholz in Form einer Stiftablage. Leider fehlt das Rauschen des Meeres und dieser einzigartige Geruch nach Salz und Seetang. Wenn ich aber dort sitze und tagträume, kann ich in meinen Gedanken ans Meer wandern und genau das alles genießen, ohne dort zu sein – und Kraft schöpfen…