Störungen tun vor allem eines: sie stören. Mich, meine Pläne, mein Umfeld. Richtig mit ihnen umgegangen, können sie aber zu einem Gewinn in meinem Leben werden. Wie? – Erkennen, klassifizieren, handeln – 3 schritte zum gewinnbringenden umgang mit störungen!
Es war ein schöner Spätsommer im September. Seit Wochen schon waren die Temperaturen sommerlich, geregnet hatte es nur selten. Die Kronen der Bäume waren nach wie vor in dunklem Grün. Auch für die nächsten Tage ließ das Wetterradar keinen Regen erkennen, der leichte Westwind entstammte weiterhin einem großflächigen Hoch über dem Atlantik. Beste Aussichten auf das anstehende Segelwochenende also, an dem wir als Teil der Stammcrew mit dem Großsegler aufbrechen wollten in die Nordsee. Nichts deutete auf irgendwelche Störungen hin – bis Donnerstagnachmittag die E-Mail kam.
Ich las den Text mehrmals, um sicherzugehen, dass ich richtig verstanden habe. Aber die Situation war eindeutig. Also informierte ich meine Familie in unserem Chat über die geänderte Ausgangslage:
„Segeltörn am Wochenende ist abgesagt. Wassereinbruch im Vorschiff. Crew wird gebeten, dennoch zu erscheinen und das Schiff wieder flott zu machen.“
Eine kleine Störung mit großer Wirkung
Es war ein Leck im Bugstrahlruder. Ein kleines nur, aber ausreichend, um große Teile des vorderen Rumpfes zu fluten. Die Wasserschutzpolizei hatte die Schräglage des Schiffes bemerkt und rechtzeitig informiert, sodass ein noch größerer Schaden, gar ein Sinken des alten Schiffes, verhindert werden konnte.
So saßen wir am Samstagmorgen in der Messe des Schiffes zusammen. Statt in angenehmer Freizeitkleidung in Arbeitsklamotten. Nicht auf der Nordsee, sondern am Anleger. Lagebesprechung.
Der Bugstrahlruderraum war bereits ausgepumpt, das Leck abgedichtet. Jetzt galt es die dort aufgehängten Tauwerke und andere gelagerte Materialien zu waschen und in der Sonne zu trocknen. Und der Motor des Bugstrahlers musste ausgebaut werden, um ihn in einer Fachwerkstatt auf eventuelle Schäden zu überprüfen. Dazu musste in die Back – das Deck auf dem Vorschiff – ein Loch geschnitten und der über hundert Kilo schwere Motor aus seiner Verankerung gehievt und mit einem Schwerlastkran aus dem Schiffsrumpf gehoben werden.
Schritt 1: Störungen als solche erkennen
Ohne jeglichen Zweifel war es offensichtlich: der Wassereinbruch war eine Störung, der unsere Pläne für das Wochenende massiv durchkreuzte. Aber auch während der Arbeiten selbst traten immer weitere neue Störungen auf, welche die Arbeitsabläufe beeinträchtigten. Fehlender Platz für die nassen Tauwerke. Schrauben, die sich nicht lösen ließen. Das Gewicht des Motors, dass es uns erschwerte, ihn unter engsten Bedingungen tief im Rumpf zu bewegen.
So banal es auch klingt, so wichtig ist es, Störungen als solche auch zu erkennen und zu benennen. Etwas durchkreuzt unsere Pläne, ändert unsere Prozesse, beeinflusst unsere Abläufe: hier liegt eine Störung vor. Schlicht und ergreifend. Der Plan kann nicht wie ursprünglich gedacht umgesetzt werden. Es braucht jetzt irgendetwas, um dennoch den Inhalt des Plans zu verwirklichen. Der Prozess muss neu oder verändert gedacht werden, schließlich gilt es das Ziel weiterzuverfolgen und zu erreichen. Bei alledem handelt es sich um eine Störung – eine Abweichung vom angestrebten Sollablauf.
Warum es wichtig ist, eine Störung als solche zu erkennen und auch zu benennen? Weil ich mir dadurch klarmache, dass dies nicht der angestrebte Normalzustand ist und eine besondere Situation vorliegt, mit der ich umgehen, auf die ich reagieren muss. Wie ein Stoppschild an einer Kreuzung bringt es mich zum innerlichen Anhalten. Übergehe ich diesen einfachen, fast unscheinbaren, aber so wichtigen ersten Schritt, gebe ich der Störung nicht das nötige Gewicht. Damit unterscheiden sie sich nicht oder nur kaum vom Normalzustand. Und das wiederum führt dazu, dass ich keinen Grund habe, zu handeln, etwas zu verändern. Mit negativen Auswirkungen auf mich und mein Leben.
Schritt 2: Störungen klassifizieren
Störungen unterscheiden sich voneinander. Das Leck im Rumpf des Schiffes war sicher von anderer Auswirkung als wenn beispielsweise Softdrinks an Bord für die Reise fehlen. Ich unterscheide für mich 3 Typen von Störungen:
Typ 1: offensichtliche K.O.-Störungen
Das sind für mich Störungen, die offensichtlich sind und stoppenden Charakter haben. Das Leck im Rumpf gehört in diese Kategorie. Es ist offensichtlich, dass hier eine Störung vorliegt und aufgrund dessen kann das Schiff seine geplante Reise nicht antreten. Mit allen Konsequenzen. In meinem Alltagsleben sind solche Störungen oftmals beispielsweise physischer Natur. Ich bin krank und kann damit nicht am geplanten Termin teilnehmen. Die Knieverletzung hindert mich daran, am nächsten Fußballspiel mitzuspielen. Der platte Fahrradreifen macht die Radtour zumindest für die nächste Stunde unmöglich. Eindeutig, nicht wegzudiskutieren, mit direkten Auswirkungen auf mich oder meine Vorhaben.
Typ 2: banale Störungen
Unter diesem Typ fasse ich all solche Störungen zusammen, die nur geringe oder keine direkten Auswirkungen haben. Um bei dem Beispiel der Ausfahrt mit dem Traditionssegler zu bleiben: die fehlenden Softdrinks. Ja, ist nicht schön, war anders geplant und wäre auch nett, welche an Bord zu haben. Macht aber die Ausfahrt nicht unmöglich. Im Alltag sind dies in den meisten Fällen die „Oh, das hab‘ ich vergessen“-Erlebnisse. Die Welt geht davon nicht unter, mein Leben steht nicht vor dem Kollaps.
Typ 3: unbemerkte Störungen
Der schwierigste und gefährlichste Typ. Sie treten meist als banale Störungen, also Typ-2-Störungen auf, werden aber als solche nicht erkannt oder ernst genommen. Dadurch entwickeln sie sich unbemerkt zu Typ-1-Störungen, was im schlimmsten Fall ein K.O. bedeuten kann. Oder einen erheblichen Schaden oder Nachteil an einer ganz anderen Stelle im Leben.
Zu wenig Diesel im Tank des Seglers wäre eine solche Störung. Nicht wahrgenommen und daher nicht gelöst kann das zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Klassische Beispiele im Alltag: der leichte Schmerz im Rücken, den ich einfach nicht ernst nehme und der sich irgendwann zu einem Bandscheibenvorfall entwickelt. Zwischenmenschliche Dissonanzen und Schieflagen, die unbeachtet bleiben und irgendwann zu einer tiefen Vertrauenskrise werden.
Ebenfalls dazu zählen für mich auch diese Art von Störungen: Reinkommende Social-Media-Nachrichten, denen ich während des gemeinsamen Abendessens mehr Beachtung schenke als dem Gespräch mit dem Rest meiner Familie. Telefonate, die ich mitten im Gespräch mit einem Kollegen entgegennehme und damit meinem Kollegen indirekt vermittle: du bist nicht so wichtig.
Typ-3-Störungen haben gemeinsam, dass sie immer klein und unscheinbar auftreten. Reinkommende Telefonate – ist doch wichtig und eigentlich auch kein Problem, oder? Mal eben die Social-Media checken und kurz beantworten – was soll’s, dauert ja nur ein paar Sekunden. Ja, erstmal alles kein Problem. Meine Kinder oder meine Frau merken aber sehr wohl, wem oder was ich meine Aufmerksamkeit widme. Kollegen auch. Und wenn das zum Normalzustand wird, dann wirkt sich das sehr wohl gravierend aus, bis hin zum Kollaps eines Systems. (System kann hier mein Körper sein, meine Familie, mein Kollegium, …)
typengerechtes handeln
Klar irgendwie, dass ich mit den unterschiedlichen Störungstypen auch jeweils anders umgehen muss. Vom Ansatz her sind die K.O-Störungen der einfachste Typ: ich muss sie schlicht und ergreifend beseitigen, um meinen Plan, mein Ziel oder was auch immer weiterverfolgen und umsetzen zu können. Keine Lösung – kein Vorankommen.
Dass die Lösung, also die Störungsbeseitigung, nicht immer einfach ist, das ist ein anderes Thema. Den Bugstrahlrudermotor auszubauen war extrem aufwendig. Der Motor musste unter schwierigsten Bedingungen aus den Tiefen des Rumpfes nach außerhalb des Schiffes gelangen. Engste Räume, wenig Licht im Rumpf des Schiffes. Stahlträger mussten abgeflext werden, um ihn bewegen zu können. Im Deck war eine zusätzliche Öffnung vonnöten. Und ein entsprechender Schwerlastkran musste geordert werden. In aller Regel gibt es bei diesem Typ auch keine Abkürzungen.
Typ-2-Störungen sind in der Sache deutlich einfacher, hier braucht es meinerseits eine bewusste Entscheidung. Nämlich die, dass ich bereit bin, Banalitäten als Störungen zu benennen und dann auch einfach banal damit umzugehen. Mich nicht von ihnen unterkriegen zu lassen. Ihnen den richtigen Stellenwert einräumen. Die Welt geht von diesen Störungen nicht unter, also sollte ich das auch nicht tun.
Bleiben noch die schwierigen, gefährlichen Typ-3-Störungen.
Typ-3-Störungen: sensibel werden und Bewusstsein schärfen…
Zur Erinnerung: Dies sind Störungen, die ich nicht als solche bemerke und denen ich deshalb auch keine Aufmerksamkeit schenke. Oder, nach meiner Erfahrung ebenso wahr: ich will sie nicht bemerken. Weil sie Aufwand bedeuten würden, den ich nicht zu leisten bereit bin, aus den unterschiedlichsten Gründen.
Dabei ist es egal, ob ich sie schlicht und ergreifend nicht bemerke oder nicht bemerken will – die Folgen sind die gleichen: ein immenser Mehraufwand in der Schadensbeseitigung. Gesetzt den Fall, ich kann den Schaden beseitigen. Diese Art von Störungen lassen sich häufig bei der körperlichen Gesundheit und im zwischenmenschlichen Miteinander beobachten. Ungesundes Verhalten zu verändern ist mitunter extrem aufwendig und erfordert vor allem Konsequenzen, die ich nicht bereit bin zu leisten. Und Dinge im sozialen Miteinander anzugehen ist nervig, anstrengend und vordergründig zeitraubend, also unproduktiv.
Um diesen Störungen adäquat zu begegnen, ist es zunächst unbedingt notwendig, dass ich sensibel werde und immer besser lerne, erste Anzeichen auf eine Störung wahrzunehmen. Mein Gefühl, nicht mehr entspannen zu können. Meine Schlaflosigkeit. Die häufigen Kopfschmerzen. Den Schwindel. Die Magenschmerzen. Nun ist dies hier kein medizinischer Blog und sicher kann es für viele diese Symptome die unterschiedlichsten Gründe geben. Mir geht es darum, dass ich aber diese Symptome BEWUSST WAHRNEHME.
Im sozialen Kontext: Die häufige Gereiztheit im Team. Die schlechte Stimmung. Personen, die sonst eher redselig sind, schweigen immer häufiger. Menschen werden teilnahmslos. Oder bleiben weg. Ich muss das BEWUSST WAHRNEHMEN.
Und dann damit umgehen, meine Wahrnehmung ernst nehmen, sie für mich klar formulieren und damit in mein aktives Bewusstsein holen. Gelingt mir dieser Schritt, dann werde ich handlungsfähig. Kann mich gedanklich damit auseinandersetzen und konkrete Handlungen daraus ableiten. Erst jetzt, und auch nur jetzt, habe ich damit die Chance, diese Störungen zu beseitigen.
Konkrete Beispiele: Das Telefonat, welches mitten in ein Gespräch mit meinem Kollegen hereinplatzt – ich entscheide mich, erst das Gespräch mit meinem Kollegen in Ruhe zu Ende zu führen. Danach rufe ich zurück. Ich greife nicht mehr wie gewohnt mitten im Gespräch zum Hörer und signalisiere gleichzeitig meinem Gegenüber, dass es ja nur kurz dauert. Die hereinkommenden Nachrichten in meinen Social-Accounts – ich verbanne mein intelligentes Telefon aus der Küche und kann mich voll der Familie widmen. Oder Freunden oder wem auch immer.
störungen haben vorrang
So lautet ein äußerst wichtiger und entscheidender Grundsatz in der (psychologischen) Beratung. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass, wenn es eine unberücksichtigte Störung in einem sozialen System gibt, dieses in keinem Fall mehr zielführend produktiv sein kann. Und es lässt sich ausdehnen auf jegliches Erleben, in denen Störungen, egal welcher Art, auftreten. Der Grundsatz bleibt der Gleiche: Ignoriere ich Störungen – bewusst oder unbewusst – sind meine Ziele gefährdet. Das können produktive Ziele sein, aber auch profane unbewusste Ziele wie „Ich erhalte mir meine körperliche Gesundheit“.
Je früher ich Störungen bemerke und diese angehe, desto weniger aufwendig ist die spätere Aufarbeitung der durch diese Störungen hervorgerufenen Probleme. Und der Glaube, dass „es ja so schlimm nicht ist“ entpuppt sich in aller Regel als fataler Trugschluss. Spätestens dann, wenn „das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Im Klartext also dann, wenn mein Körper die Segel streicht und meine Gesundheit hinüber ist. Oder wenn das Team gespalten und ein gemeinsames Arbeiten unmöglich ist, weil das Vertrauen zerstört wurde.
Wenn es mir gelingt, mit Störungen im Alltag bewusst umzugehen, dann habe ich auch die Chance, Gewohnheiten zu durchbrechen. Der Dreiklang wahrnehmen – klassifizieren – handeln bringt mich aus der passiven in eine aktive Rolle und hilft mir, unbewusste und stumpfe Abläufe zu unterbrechen und sie bewusst zu gestalten. Davon profitieren sowohl ich selbst als auch die Menschen um mich herum.
Ich wünsche dir dabei viel Erfolg!