Der Volksmund sagt: „Ich bin, was ich tue.“ Ich behaupte: diese Einstellung ist ein Trugschluss – ein gefährlicher sogar. Weil er mich abhängig macht und in die Irre führen kann.
Die zwei Grundfragen des Lebens: Wer bin ich? Und wozu?
Wer bin ich? In einem früheren Blogbeitrag zum Thema Langeweile im Männerleben sind wir schon einmal Oliver und Jan begegnet. Oliver ist in seinen Mittdreißigern, Familienvater und arbeitet Teilzeit in der Personalabteilung eines großen Konzerns. Sein Nachbar Jan ist Ende Vierzig, verheiratet, kinderlos und als Projektleiter im Anlagenbau tätig.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Leben dieser beiden Männer sehr. Der eine, Oliver, steht dabei für ein Leben, das unter Männern oft als eher langweilig, unscheinbar, wenig attraktiv oder „beruflich nicht erfolgreich“ tätowiert wird. Jan hingegen begeistert da schon mehr – als Projektleiter hat er sich viel Verantwortung erarbeitet, der Himmel in 13 Kilometern Höhe ist sein zweites Zuhause und sein Bankkonto dürfte entsprechend aussehen.
Hinter der Fassade allerdings sieht es anders aus. Beide sind neidisch auf das Leben des jeweils anderen. Weil ihr eigenes Leben sie langweilt, wirkt das vom Nachbarn viel attraktiver. Und während sie mal wieder im Büro sitzen und ihrer Arbeit nachkommen, beginnen beide zu träumen… „Wenn ich noch einmal neu anfangen könnte, dann… Wie schön wäre es, wenn ich…“
Kennst du solche Tagträumereien? Gerade, wenn es mal wieder nicht so gut läuft im Leben. Oder wenn der Stresspegel wieder überhandnimmt. Dann scheinen sich solche Gedanken breit zu machen in meinem Kopf. Begleitet von Fragen: „Will ich das alles eigentlich?“ „Könnte ich mich nicht noch einmal verändern?“ „Was wäre eigentlich, wenn …“ Fast automatisch wirft eine Frage die nächste auf und es geht immer tiefer in mich hinein… Meine Erfahrung: Je öfter ich so dasitze und träume, desto aufdrängender stellen sie sich mir in den Weg – die zwei Grundfragen des Lebens: Wer bin ich? Und wozu bin ich?
Sehr oft geschieht dies im Kontext dessen, was ich tue – meistens beruflich, aber auch in meiner Freizeit kann es solche Auslöser geben. In der Regel immer dann, wenn ich mit irgendetwas dessen, was ich tue, zutiefst unzufrieden bin.
Ich bin… was ich tue?
Ist dir schon einmal aufgefallen, wie wir antworten, wenn wir nach unserem Beruf gefragt werden? „Was machst du beruflich?“ – „Ich bin Ingenieur/ Tischler/ Informatiker/ Bäcker/ …“ Gemerkt? „Ich BIN …“ ist unsere Antwort. Passiert auch in der Freizeit: „Auf welcher Position spielst du?“ – „Ich bin Torwart.“ „Was machst du in dem Verein?“ – „Ich bin der Kassenwart.“ Immer das gleiche Muster: Auf die Frage nach dem, was wir TUN, antworten wir damit, was wir SIND. Und das deckt sich prima mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Prinzip: „Ich bin, was ich tue.“ Dabei handelt es sich hier nicht nur um ein kleines sprachliches Detail, sondern um eine zutiefst liegende Überzeugung. Über die wir viel zu selten nachdenken und die mehr von unserem Leben bestimmt, als wir zunächst glauben.
„Ich bin Vorarbeiter“, „Ich bin Projektmanager“, „Ich bin Stürmer“, „Ich bin Vorsitzender“ – wir machen unser Tun zu unserem Sein. Dadurch passiert zweierlei: Zum einen leiten wir uns selbst fehl, weil wir auf unsere zutiefst liegende Frage nach unserer Identität oberflächlich und falsch antworten. Zum anderen schaffen wir dadurch ein bewertendes System, welches mich und andere gewissermaßen einstuft in „Ich bin wer“ und „Ich bin nichts (oder wenig)“. Beides wollen wir näher ansehen.
Dilemma #1: Wir leiten uns selbst in die Irre
Dadurch, dass wir die Antwort auf die Frage nach unserer Identität oberflächlich in unserem Tun suchen oder sehen. Wenn wir uns selbst und anderen ständig sagen, dass wir ‚Das-und-das‘ sind, glauben wir es irgendwann unbemerkt selbst. Wir verlernen zu unterscheiden zwischen unserem Tun und unserem Sein.
Das ist erst einmal scheinbar nicht schlimm. Aus eigener Erfahrung heraus weiß ich aber, dass, wenn sich unser Tun aus irgendeinem nicht bei uns liegenden Grund ändert, wir sehr schnell in eine Lebenskrise geraten können.
Wie Weil ganz plötzlich unser Selbstbild von uns zerstört wird. Weil uns plötzlich die Basis abhandenkommt, auf der wir unser Leben gründen. Und oft ist das dann keine leichte Krise, sondern eine existenzielle, die uns richtig verzweifeln lassen kann. Manchmal so sehr, dass gestandene Männer zusammenbrechen und sich flüchten in Ablenkungen jeglicher Art, in Alkohol, Drogen (und manchmal sogar den Freitod).
Wenn mein Tun mich so sehr bestimmt und prägt, dass ich mich letztlich darüber identifiziere, dann mache ich mich zum Spielball der Umstände. Bedeutet im Klartext: ändern sich die Umstände, ändert sich meine Identität. Oder umgekehrt: will ich an meiner Identität festhalten, muss ich auf jeden Fall verhindern, dass sich die Umstände ändern. In beiden Fällen liegt die Antwort auf die Frage meiner Identität außerhalb von mir. Ich mache mich abhängig. Und zwar von Menschen. Meinem Vorgesetzten beispielsweise, der darüber entscheidet, ob ich Projektmitarbeiter bleibe oder Projektleiter werde. Oder dem Trainer, der entscheidet, ob ich als Torwart spiele oder eben nur Ersatztorwart auf der Bank bleibe. Oder die Mitglieder, die darüber entscheiden, ob ich Vorsitzender bin oder nur normales Vereinsmitglied.
Ändert sich mein „Status“, ändert das meine Identität. Positiv wie negativ. War ich vorher Teamleitung und werde jetzt Abteilungsleiter (oder Ersatzspieler und jetzt Stammspieler, oder oder oder…), gewinnt mein Ego. Ich habe mich durchgesetzt, ich wurde als besser als XYZ angesehen. Ich BIN eben wer. Andersherum ist es aber genauso wahr. Sehe ich, dass mein Kollege anstatt ich die Abteilungsleitung übertragen bekommt, verliert mein Ego und ich zweifle an meiner Identität: Ich BIN nicht so gut. Ich BIN ungeeignet. Womit wir zum zweiten Dilemma kommen:
Dilemma #2: Identitätsbestimmende Bewertungssysteme
Wir schaffen ein bewertendes System, welches mich und andere einstuft in „Ich bin wer“ und „Ich bin ‚nichts‘“. Mal ehrlich: Wer zählt in unserer Gesellschaft, wer zählt bei dir mehr? Der Reservespieler auf der Ersatzbank oder der Stammspieler in der Startelf? Der Abteilungsleiter oder der Fließbandarbeiter? Der Kassierer im Supermarkt oder der Chefarzt des Zentralkrankenhauses? Der Busfahrer oder der Rechtsanwalt?
Merkst du etwas? Je nachdem, was jemand „Ist“, entscheidet darüber, wie wir die Person „einsortieren“. Weil wir selbst uns oft definieren über das, was wir tun, definieren wir auch andere darüber. Weil unsere Identität von unserem Tun abhängt, geben wir darüber auch anderen gewissermaßen ihre Identität. Und gleichermaßen gehen wir davon aus, dass auch andere uns unsere Identität über unser Tun geben und fühlen uns entsprechend wertvoll oder eben auch nicht. Klassifizierung. Ich bin Geschäftsführer – dann BIN ich wer (= meine Identität). Ich bin „nur“ Busfahrer – dann BIN ich eben gesellschaftlich nicht viel (= meine Identität). In einem Fall habe ich eine aufbauende, motivierende Identität. Im anderen Fall habe ich eine herunterziehende, kleinmachende Identität.
Der Ausweg: Ich gründe meine Identität nicht auf mein TUN sondern mein SEIN. Ich suche und finde bei mir selber, in dem, was und wer ich bin. Eine Reise in mein Inneres. Lust auf mehr? Dann lies gerne den zweiten Teil von „Wer bin ich?“